Geschichtenerzählen
geschrieben von Michael
Ich stamme aus dem Süden Deutschlands, einer ländlichen Gegend mit fast mediterranem Klima, vielen kleinen Dörfern, Bauernhöfen und Weinbergen. In der Weihnachtszeit liegt meist viel Schnee und die Abende verbringt man oft mit frischen Walnüssen, Linzer Torte, Zwiebelkuchen und einem Glas Gutedel, dem hiesigen Wein. Dabei werden Geschichten erzählt, Geschichten von früher, wahre Geschichten von Erlebtem, von schon oft Erzähltem.
Dieses Geschichtenerzählen muss gelernt sein. In der heimischen Stube genauso wie auf der Bühne.
Doch wie tun wir das? Erst wenn wir eine Ausgangssituation erschaffen, die das Erzählte mit dem Zuhörer verbindet, ist eine Grundlage für das gemeinsame Empfinden gegeben. Erst wenn es uns als Erzähler gelingt, die Distanz zum Zuhörer aufzulösen, wird er für unsere Geschichte empfänglich und berührbar.
Das kann durch in der Geschichte vorkommende Charaktere ebenso wie durch das Erschaffen eines Schauplatzes geschehen oder durch detailliertes Beschreiben einer Situation, in der sich der Zuhörer wiederfindet.
Wir schaffen also bei der Eröffnung einer Geschichte ein Wiedererkennen, eine Verbundenheit, ein heimeliges Gefühl. Und je sorgfältiger und detailverliebter wir in dieser Phase des Geschichtenaufbaus vorgehen, umso stärker ziehen wir den Zuschauer/Zuhörer in unsere Geschichte hinein.
Er wird selbst zu einem Teil der Geschichte, die Freude des Protagonisten wird seine Freude werden, so wie die Hoffnung zu seiner Hoffnung und die Liebe zu seiner eigen Liebe wird. Die Geschichte ist auf den Weg gebracht.
Wenn wir als Erzähler nun diese Freude, Liebe, Hoffnung ins Wanken bringen, wird auch die Freude, Liebe, Hoffnung des Zuschauers ins Wanken gebracht. Er begibt sich gemeinsam mit dem Protagonisten hinein in die Gefahr, gemeinsam mit ihm auf fremde Planeten, in eine Märchenwelt oder geht mit ihm auf einen Abgrund zu. Er folgt uns in die Apokalypse oder ins Paradies oder ins Verderben. Unser Zuschauer wird zum Liebenden oder zum bestialischen Mörder. Freude und Schmerz werden zu seiner Freude und zu seinem Schmerz. Unsere Geschichte ist seine geworden, seine Phantasie wird das übrige tun.
Wir Darsteller und Erzähler sind zum Stellvertreter des Zuschauers geworden und es liegt jetzt an uns, ob wir den Ausgang der Geschichte ins Happyend führen, in die Hoffnungslosigkeit oder ob wir das Ende offen lassen. Der Zuschauer wird die Geschichte mit nach Hause nehmen, darüber nachdenken, vielleicht weitererzählen, etwas hinzutun… Nur vergessen sollte er sie nicht.
In diesem Sinne: Schöne Weihnachten!